Quelle: Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker e.V.

 

 zum Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker e.V
25-jähiges Verbandsjubiläum des
Bundesverbandes Aphasie
in der Residenz zu Würzburg
 

Frau Springer, Herr Grefe

Lesung aus dem Buch

3+4=8

Uwe Grefe
(Autor des Buches)
mit Frau Luise Springer †

 

 

Festvortrag:
"Aphasie: Wege aus dem Schweigen und der Einsamkeit"
Dr. Luise Lutz, Hamburg

In dieser Residenz, die so viel Schönheit und Lebensfreude ausstrahlt, möchte ich mit Ihnen nach Wegen suchen, die aus dem Schweigen und der Einsamkeit heraus-führen zu einem Leben, das auch für Aphasiker und ihre Angehörigen schöne Seiten hat.

Eigentlich sollte über dieses Thema ein Aphasiker sprechen, denn niemand, der nicht selbst eine Aphasie durchgemacht hat - auch nicht der liebevollste Angehörige - kann voll ermessen, was ein Mensch fühlt und denkt, der plötzlich die Sprache und damit den Zugang zu seiner und unserer Welt verloren hat. Deshalb empfinde ich es als Höhepunkt dieses Tages, dass Uwe Grefe, der als Aphasiker ein so bewegendes Buch geschrieben hat, gleich zu Ihnen sprechen wird.

Ich kann also nichts darüber sagen, was ein Aphasiker innerlich erlebt. Aber  vielleicht können Ihnen doch einige Erkenntnisse nützen, die ich als Therapeutin und als Angehörige eines schwer betroffenen Aphasikers gewonnen  habe.

Der erste Schritt zurück ins Leben, vielleicht der schwerste, ist für einen Aphasiker die Begegnung mit sich selbst. Irgendwann, früher oder später, ist der Aphasiker auf dem Boden der tiefsten Krise angekommen. Er nimmt sich selbst wahr. Er fragt: "Wer bin ich? Was ist mir geblieben? Hat mein Leben noch einen Sinn? Bin ich noch liebenswert?"

Die Suche nach Antworten ist langwierig und führt oft in Depression. Der Aphasiker war auf diesen Schicksalsschlag nicht im geringsten vorbereitet, er weiß nichts über Heilungsmöglichkeiten, und er muss diese quälende Bestandsaufnahme ohne Sprache durchstehen ohne sich Rat holen zu können. Er ist allein mit sich und mit der Angst, die Menschen, die er am meisten liebt, und seine ganze bisherige Welt zu verlieren.

Diese Krise ist grausam, aber sie ist auch notwendig. Sie weckt Kräfte und Erkenntnisse, von denen der Aphasiker vorher nichts wusste. Sie zwingt ihn, alles, was er noch kann, zu mobilisieren und sich der Situation zu stellen. Wenn er sich nicht wie ein hilfloses Bündel fühlen will, das vom Schicksal herumgeworfen wird, muss er versuchen, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen. Er muss dahin kommen, dass er die Tatsache seiner Aphasie mit allen Konsequenzen nicht nur erkennt, sondern auch akzeptiert. "Es ist eben so", sagt eine meiner Patientinnen, die sich gerade aus einer schweren Aphasie heraus-kämpft. Damit meint sie nicht: "Es ist eben so, und man kann nichts tun." Im Gegenteil. Sie will damit sagen: "Es ist eben so, und nun muss ich sehen, was ich daraus mache!" Dies ist die beste, ich möchte fast sagen, wichtigste Voraussetzung, dass ein Aphasiker die Kraft findet, um zur Sprache und zum Leben zurückzufinden. Wenn er nur von anderen hört: "Du musst Mut haben! Du musst üben!" wird er weniger vorankommen. Er kann nur das schaffen, was er selbst schaffen will. Die Kräfte,  die er braucht, um die mühsame Wiedergewinnung der Sprache voranzutreiben, müssen aus seinem eigenen Antrieb kommen.

Ich kenne Aphasiker, die diese Kräfte nicht aufbringen können, zumindest eine lange Zeit nicht. Sie bleiben vielleicht in den Fragen nach dem "Warum" hängen, sie verbrauchen ihre Energie beim Hadern mit ihrem Schicksal. Das ist nur zu verständlich. Das Schicksal ist ungerecht, und Fragen nach dem Warum sind kaum vermeidbar. Aber sie helfen nicht und müssen allmählich unterdrückt werden. Zurückblicken ist sinnlos, alle Energie wird für die Zukunft gebraucht.  

Erstaunlich viele Aphasiker  bringen  aber die Kraft auf,  aus sich selbst heraus Mut und Hoffnung zu entwickeln - nach Wochen,  Monaten oder sogar Jahren der Verzweiflung.  Der  Aphasiker Leonhard sagte sich, als er sprachlos und gelähmt im Krankenhausbett aufwachte: "Irgendwas musst du ja noch können, denn du denkst ja jetzt im Moment." Die Erkenntnis,  seinen Verstand noch zu haben, war für ihn der erste Schritt zurück ins Leben.  Uwe Grefe sagte: "...der Sohn, als ich mitbekommen habe, dass er da ist, geboren wurde ...hab ich wieder ...Mut gefasst."

Luise Lutz

McCrumb, ein englischer Aphasiker, sagte nach langen Kämpfen: "Im Rückblick kommt es mir so vor, als sei ich für längere Zeit ,weggewesen', im Gefängnis zum Beispiel oder im Krieg, und trauriger und vielleicht ein bisschen weiser zurückgekehrt." Und dann fügt er hinzu: "Ich leide jetzt nie mehr unter Langeweile. Das ganze Leben scheint mir kostbar, außergewöhnlich und faszinierend."

Aus ganz unterschiedlichen Gründen kommen Aphasiker allmählich zu einer positiveren Einstellung.

Unterschiedlich lang ist auch die Zeit, die der einzelne Aphasiker braucht, um sich selbst zu erkennen und die eigenen Möglichkeiten zwar realistisch, aber auch hoffnungsvoll abzuschätzen. Manche brauchen Monate oder Jahre und stellen damit ihre Angehörigen auf eine harte Geduldsprobe. Es nützt nichts, einem Aphasiker zu sagen: "Du musst jetzt begreifen, dass du selbst etwas tun musst! Du musst aktiv werden! Du musst zur Therapie gehen!"  Aphasiker -  wie alle erwachsenen Menschen -  mögen  nicht zu etwas gezwungen werden, auch nicht zu ihrem eigenen Besten. Je mehr man sie zu zwingen versucht, desto mehr sträuben sie sich. Falls sie aber  gegen ihre eigene Überzeugung  nur nachgeben,  wird ihnen alles, was sie tun, nicht richtig helfen. Sie brauchen Zeit, um sich selbst zu finden.

Wenn man Aphasikern begegnet, die, wie Uwe Grefe und McCrumb, eine harte Selbstfindungskrise durchgestanden haben, dann spürt man deutlich, dass sie eine innere Freiheit gewonnen haben. Sie haben ein realistisches Bild von sich selbst, sie leiden zwar an allem, was die Aphasie an Konsequenzen für sie hat, aber sie werden nicht daran zerbrechen. Sie haben die Kontrolle über ihr Leben wieder selbst in der Hand. Das ist eine ganz wesentliche Bedingung dafür, dass sie im Leben wieder mitspielen können, ganz gleich, wie viel Sprache ihnen dabei zur Verfügung steht.

Auch die Angehörigen müssen diese Krise der Bestandsaufnahme durchmachen. Sie müssen sich auch fragen:  "Wer bin ich? Was ist jetzt meine Welt? Was will ich aus meinem Leben machen? Wieweit geht meine Liebe? Wo finde ich Kraft?"

Die ungeheuren Belastungen, die für Jahre auf die Angehörigen zukommen, können sie nur bewältigen, wenn sie Antworten auf diese Fragen finden.  Die Versuchung ist groß, die Zeit zurückdrehen zu wollen,  der Wunsch ist groß, dass der Aphasiker sich möglichst schnell wieder in die frühere gesunde Person zurückverwandelt - aber das kann nur in Frustration enden. Selbst die beste Therapie braucht viel Zeit, mehr Zeit als geduldige Angehörige ertragen können. Auch für sie kann die Situation nur erträglich werden, wenn sie herausfinden, was in diesem neuen Leben noch an positiven Möglichkeiten für sie steckt. Sie müssen entscheiden, ob sie sich von den  täglichen Plagen, die die Aphasie ihnen aufläd, unterkriegen lassen wollen oder ob sie bewusst diesen harten Alltag auf sich nehmen  und  gleichzeitig aktiv nach Möglichkeiten suchen, ihn zu verbessern. Alles, wozu sie sich freiwillig entschließen, wird ihnen allmählich leichter fallen und Raum lassen für positivere Gefühle.  

Vielfach fühlen sich die Angehörigen verpflichtet, ihr ganzes Leben der Wiedergewinnung der Sprache zu opfern,  verständlicherweise konzentrieren sie alle Kräfte auf die Therapie. Ihr Leben besteht fast nur noch aus Warten: "Wie lange dauert es noch?" ist eine der häufigsten Fragen an uns Therapeuten.

Wartezimmer sind öde Orte, das Leben ist aus ihnen ausgesperrt. Und bei Aphasie dehnt sich das Warten ins Endlose. Deshalb mein Rat: Statt "üben, üben, üben" (wie ich es oft höre) sagen Sie bitte "leben, leben, leben". Das Paradoxe der Sprache besteht darin, dass sie um so besser funktioniert, je weniger wir uns auf sie konzentrieren.

Selbstverständlich ist Therapie nötig und sinnvoll, und wir Therapeuten zerbrechen uns den Kopf, um  immer bessere Übungen zu entwickeln. Aber das ist unsere Aufgabe. Sie als Aphasiker und Angehörige haben eine andere. Sie verwalten täglich eine ganze Reihe von Stunden Leben, die viel zu kostbar sind, als dass man sie durch untätiges Warten auf ein weit entferntes Ziel vergeuden darf, und die seltsamerweise umso schneller spurlos vergehen, je weniger man sie mit interessanten Tätigkeiten füllt.

Ein Wissenschaftler,  der sich mit dem Thema "Glück" befasste, hat herausgefunden, dass man einen glücklichen Zustand dann erreicht,  wenn man "jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgeht".  Im Tun aufgehen, etwas tun, was man mit voller Aufmerksamkeit tut - das ist ein Heilmittel, das ich Ihnen aus eigener Erfahrung mit aller Intensität empfehlen kann. Auch Ihnen als Aphasiker. Tätigkeiten, für die man Motivation, Liebe zur Sache, Neugier, eine gewisse Sachkenntnis und eine gewisse Selbstkontrolle braucht, verlangen, dass man sich ganz  auf sie konzentriert. Und diese Konzentration auf die Sache, weg von der Sprache, bewirkt wunderbarerweise, dass die Sprache besser funktioniert. Bei solchen Tätigkeiten entsteht nämlich die bei Aphasie so nötige Entspannung, aus der sich Ruhe und Energie ergeben, die sich wiederum günstig auf die Sprache auswirken.

Was ich Ihnen deshalb ans Herz legen möchte: Suchen Sie nach  Tätigkeiten, die Ihnen so viel Freude machen, dass Sie dabei die Zeit,  Ihre Umgebung und sich selbst vergessen. Vielleicht  müssen Sie einige  Zeit suchen, und vielleicht müssen Sie etwas völlig Neues lernen.  Vielleicht müssen Sie Ihr eigenes Selbstbild  umkrempeln, so wie der Maurermeister Uwe Grefe  unter die Autoren gegangen ist.  Es gibt eine ganze Reihe Aktivitäten,  für die man nur eine Hand und kaum Sprache braucht - sollte nicht eine für Sie dabei sein?

Was Sie auch machen, allein, zu zweit oder mit Freunden, wenn  Sie es intensiv und mit Freude machen,  wird auch Ihre Sprache davon profitieren. Sie werden  Ihren Geist anregen, Sie werden Lust bekommen, etwas auszutüfteln, Sie werden merken, dass Ihnen etwas gelingt - und auf einmal werden Sie - trotz der Aphasie - ganz locker ein Wort oder ein paar Worte gesagt haben.  Ich habe zahllose Male erlebt, wie Tätigkeiten, die man liebt, die Sprache beflügeln - und das gilt auch für Aphasiker.

Und die Einsamkeit? Sie werden merken: Tätigkeit steckt an. Wenn jemand guten Mutes und selbstvergessen etwas tut,  finden sich meist bald andere,  die das auch tun wollen.  Oder die dumme Ratschläge geben, aber das  wäre ja auch  nicht schlecht, weil man über sie lachen kann, was auch ansteckt und verbindet.

Etwas Sinnvolles tun, dabei Freundschaft genießen und  gemeinsam lachen - dass das auch oder gerade mit Aphasie möglich ist, zeigen  uns diese Tage hier.Ich danke allen, die uns diese inspirierende Atmosphäre ermöglichen, und ich hoffe, dass wir sie noch viele Jahre  erleben dürfen.